Migrationspolitik: Macht Frankreich schon, was Friedrich Merz vorhat? (2025)

Wer die Migrationsdebatte hierzulande verfolgt, könnte den Eindruck gewinnen, in Frankreich sei alles ganz anders. Denn Unionspolitiker verweisen inzwischen regelmäßig auf die Situation im Nachbarland, um die Pläne von CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz gegen die Kritik zu verteidigen, sie seien verfassungswidrig und/oder nicht umsetzbar.

Merz’ Fünf-Punkte-Plan für eine schärfere Migrationspolitik, der vor allem die „Zurückweisung ausnahmslos aller Versuche illegaler Einreise“ vorsieht, sei dort bereits weitgehend Realität, heißt es. Auch die FAZ titelte vor wenigen Tagen: „Frankreich praktiziert, was Merz vorhat“. Stimmt das?

RN in Frankreich nicht so isoliert wie AfD in Deutschland

Zunächst kann Frankreich für Merz und die CDU als richtungsweisend angesehen werden, wenn es um die Frage der Zusammenarbeit mit der AfD geht. Denn Begriffe wie „Brandmauer“ seien im Nachbarland „nur noch taktischer Natur“, wie Jacob Ross, Frankreich-Experte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), der Berliner Zeitung erklärt. Sie würden nur noch zwischen dem ersten und zweiten Wahlgang eingesetzt, um die öffentliche Meinung in den Wahlkreisen oder auf nationaler Ebene gegen die Kandidatin des Rassemblement National (RN) in Stellung zu bringen.

„Zwischen den Wahlterminen gab es zuletzt einen regen Austausch zwischen RN-Vertretern und anderen Parteien. Angefangen in der Nationalversammlung, wo der RN als größte Einzelfraktion längst nicht so isoliert ist wie die AfD im Bundestag“, so Ross. Präsident Emmanuel Macron koaliere zwar nicht mit Marine Le Pen, „aber er hat seine Politik deutlich an die Forderungen des RN angenähert“, sagt der DGAP-Experte.

Als Beispiel nennt er das Ende 2023 mit Stimmen des RN verabschiedete Gesetz für eine verschärfte Migrationspolitik und erklärt: „Die Abgrenzung vom RN war immer viel weniger scharf als in Deutschland. In Frankreich stellt zum Beispiel kaum jemand den demokratischen Charakter des RN infrage – die republikanischen Werte durchaus, aber nicht die demokratische Einstellung der Partei.“

Vorgehen der französischen Behörden an der italienischen Grenze rechtswidrig

Kann sich Merz aber auch auf Frankreich berufen, wenn es um seine Migrationspläne geht? Seit den islamistischen Terroranschlägen in Paris am 13. November 2015 versucht Frankreich tatsächlich, die sogenannte illegale Migration durch Grenzkontrollen und sofortige Zurückweisungen einzudämmen. Dazu muss das Land alle sechs Monate eine Ausnahmeregelung im Schengener Grenzkodex beantragen, die es erlaubt, im Gefahrenfall vorübergehend Grenzkontrollen einzuführen. Der Schengener Grenzkodex regelt den Grenzübertritt an den Binnen- und Außengrenzen des Schengen-Raums.

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Könnte schon bald Bundeskanzler werden: CDU-Chef Friedrich Merz.Florian Gärtner/imago

Zwar entschied der Europäische Gerichtshof (EuGH) 2022 in einem Urteil gegen Österreich, dass die kontinuierliche Verlängerung der Grenzkontrollen rechtswidrig sei. Frankreich hielt dennoch an den Grenzkontrollen fest. Die EU-Kommission hat bisher auf ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Paris verzichtet.

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Auch bei der Zurückweisung illegaler Einwanderer nutzt Frankreich die Interpretationsspielräume des europäischen Rechts. Auf der Grundlage bilateraler Rückübernahmeabkommen werden Personen ohne gültige Einreisepapiere an der Grenze zu Italien und Spanien zurückgewiesen. Die französische Regierung sieht diese Einreiseverweigerungen durch Artikel 14 des Schengener Grenzkodexes gedeckt. Nach herrschender Rechtsauffassung in Paris gilt dies auch für Personen, die einen Asylantrag gestellt haben. Da Italien und Spanien sichere Drittstaaten seien, greife das Zurückweisungsverbot in diesem Fall nicht, so das französische Innenministerium.

Der Conseil d’État, das höchste französische Verwaltungsgericht, verurteilte jedoch 2024 das Vorgehen an der französisch-italienischen Grenze als rechtswidrig. Sofortige Zurückweisungen von Asylsuchenden sind seitdem nicht mehr möglich. Der Conseil d’État ließ der Regierung lediglich die Möglichkeit, Migranten, die keinen Anspruch auf Asyl oder Schutz haben, nach einer Prüfung zurückzuweisen. Das Gericht betonte jedoch, dass die Betroffenen in Abschiebehaft Anspruch auf einen Rechtsbeistand, einen Dolmetscher und medizinische Versorgung haben.

Im Hinblick auf die Durchsetzbarkeit und Legitimität härterer Maßnahmen in der Migrationspolitik ist das Argument, Frankreich praktiziere dies schon lange, also nur bedingt aussagekräftig.

Macron verschärft Migrationspolitik unter Druck von Le Pen

Der Blick nach Frankreich ist interessant, weil dort einige Entwicklungen, die Deutschland gerade durchläuft, bereits stattgefunden haben – zum Beispiel, dass die Parteien der bürgerlichen Mitte unter dem Druck von rechtsaußen ihren Kurs in der Migrationsfrage verschärfen. Das geschah vor allem mit dem Amtsantritt Macrons 2017.

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Emmanuel Macron und Marine Le Pen bei einem Treffen im Élysée-Palast Anfang 2019.www.imago-images.de

Bereits 2018 verschärfte seine Regierung das Einwanderungsgesetz. 2021 verabschiedete sie dann ein Separatismusgesetz, das der Justiz mehr Möglichkeiten im „Kampf gegen den radikalen Islam“ geben sollte, wie es hieß. Der Linkspolitiker Jean-Luc Mélenchon bezeichnete das Gesetz damals als „antirepublikanisch“ und „antimuslimisch“. Er kritisierte, dass es „ein leeres und verschwommenes Konzept erfinde: Separatismus.“ Es sei beschämend, dass mitten in der Corona-Pandemie stundenlang über „Schleier, Burkini und ausländische Flaggen bei Hochzeiten“ diskutiert werde. 2023 wurde, wie bereits erwähnt, das Migrationsgesetz erneut verschärft.

Das oberste Verfassungsgericht kippte jedoch fast ein Drittel der 86 Artikel als nicht verfassungskonform. Der amtierende Innenminister Bruno Retailleau von der CDU-Schwesterpartei Les Républicains (LR) will nun einen neuen Anlauf nehmen. Sollte es zu einem neuen Migrationsgesetz kommen, würde es erneut nur mit den Stimmen des RN verabschiedet werden. Es wäre das 119. Einwanderungsgesetz seit Ende des Zweiten Weltkriegs.

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„Frankreich erlebt einen Rückzug in die Vergangenheit, der sich unter anderem in der Zunahme von Jahrestagen, Gedenkfeiern und Erinnerungszeremonien widerspiegelt“, sagt der Demograf Hervé Le Bras von der Eliteuniversität École des hautes études en sciences sociales (EHESS) der Berliner Zeitung. Die Vergangenheit werde verklärt, als hätte es damals keine Ausländer gegeben, dabei seien die Zahlen vor rund 100 Jahren in etwa gleich gewesen wie heute.

Dass das Thema Migration Gesellschaft und Politik derzeit trotzdem so stark beschäftigt, erklärt er mit der wachsenden Kluft zwischen den großen Ballungsräumen und den ländlichen Gebieten: „In den ersteren sind die Zuwanderer zahlreich und die RN-Stimmen schwach, in den letzteren ist es umgekehrt. Das entspricht in etwa der Situation in Deutschland: Einwanderer im Westen, starke AfD im Osten“.

Regierungschef François Bayrou spricht von „Gefühl der Überschwemmung“

Die Landbevölkerung glaube, dass sich die Elite mehr um die Einwanderer kümmere als um die Bevölkerung abseits der großen Ballungszentren, sagt Le Bras: „Das ist natürlich falsch, aber die Aufmerksamkeit, die die Linke dem Thema gewidmet hat und immer noch widmet, dient als Argument dafür.“

Regierungschef François Bayrou sorgte kürzlich für Aufregung, als er Verständnis für das „Gefühl der Überschwemmung“durch Ausländer zeigte, das viele Franzosen hätten. Le Bras entgegnet nun, dass man von einer „Überschwemmung“ nicht sprechen könne und dass Gefühle und Fakten manchmal weit auseinanderlägen. „Der Ausländeranteil in Frankreich lag 1931 bei 6,5 Prozent, heute liegt er bei 7,5 Prozent“, so Le Bras, der sich auf Zahlen des französischen Statistikamtes Insee beruft. Zudem sei die Zahl der Einwanderer in Frankreich zwischen 2019 und 2023 um durchschnittlich 100.000 pro Jahr gestiegen, das sei weniger als im vergangenen Jahrzehnt.

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